Wenn Ry Cooder zum Gospel heimkehrt, träumen wir gerne von einer besseren Welt | NZZ (2024)

Der Gitarrist, Roots-Music-Spezialist und Produzent Ry Cooder legt ein neues Album vor. Auch auf «The Prodigal Son» setzt er sich ein für den kleinen Mann. Es handelt sich um eines der besten Werke seiner Karriere.

Wenn Ry Cooder zum Gospel heimkehrt, träumen wir gerne von einer besseren Welt | NZZ (1)

Als Ry Cooder 1970 sein erstes Solo-Album herausgab, kam einem der kalifornische Gitarrist vor wie eine alte Seele in einem jungen Körper. Erst 23-jährig war er, aber bereits mit einem reichen Erfahrungsschatz als Gastmusiker ausgerüstet. Und er schien gänzlich unabhängig von den Moden des Momentes. Er zeigte an der Hippiekultur seiner Heimat keinerlei Interesse, lehnte sogar ein Angebot der Rolling Stones ab. Stattdessen widmete er sich alten, verkratzten Schellackplatten, urigem Blues und Dust-Bowl-Balladen der 1930er Jahre sowie dem Rhythm’n’Blues und Rock’n’Roll der 1950er Jahre.

Aus dem musikalischen Musterschüler wurde über die Jahrzehnte ein Meister – nicht nur als Virtuose auf seinen eigenen Saiteninstrumenten, sondern auch als einfallsreicher Interpret fremder Stücke. Er verwandelte Originale von Johnny Cash, Chuck Berry oder Sleepy John Estes in groovende, hybride amerikanische Volksmusik und bediente sich dabei eines mexikanischen Akkordeons, der Hawaii-Gitarre, Gospel-Chörchen und der schneidenden Slide-Gitarre.

Weltmusiker avant la lettre

Als ein Weltmusiker – noch bevor es den Begriff überhaupt gab – schuf Ry Cooders Musik, die zwar schön anzuhören war, aber sich kaum verkaufte. Weitaus populärer war sein Soundtrack zu Wim Wenders’ «Paris, Texas», wo seine akustische Slide-Gitarre schwirrende Wüstenhitze evozierte. Das war 1984. Der Erfolg war Startschuss zu einer zweiten Karriere. Fortan verdingte sich Cooder als Filmmusiker oder als Produzent – zum Beispiel beim kubanischen Buena Vista Social Club oder als Gastmusiker unter anderem beim malischen Blueser Ali Farka Touré.

Umso grösser die Überraschung, als Cooder 2005 mit einem neuen Album unter eigenem Namen wieder auftauchte. Auf «Chavez Ravine» schrieb er nun einige Stücke auch selber. Dieses Konzeptalbum liess Rückschlüsse auf seine frühere Karriere zu. Cooder hatte die Songs von Woody Guthrie oder Blind Alfred Reed offenbar nicht nur ausgesucht, weil sie ihm musikalisch gefielen, vielmehr hatte er sie auch für gesellschaftlich relevant gehalten. «Chavez Ravine» handelte von einem Quartier, bewohnt von lateinamerikanischen Einwanderern, das eingeebnet wurde, damit ein Baseballstadion errichtet werden konnte.

Ry Cooder stellte sich auf die Seite der einfachen Leute, die sich gegen die Mächtigen wehren müssen. Keine Frage: Die Entwicklung, die die USA in den letzten Jahren nahmen, gefällt ihm nicht. Wo er aber früher auf Lieder anderer zurückgegriffen hatte, schrieb er seine bärbeissigen, mit Folk und Blues getünchten Protestsongs nun selbst. Bis 2012 folgten vier weitere Alben, in denen er gegen jene ansang, die in der Vereinigten Staaten das Sagen haben, wie Politiker, Banker und Bodenspekulanten.

Eine Umkehr

Das neue Album «The Prodigal Son» markiert eine Art Umkehr. Vielleicht hatte der verlorene Sohn genug vom Protest; also kehrt er nun zum Gospel zurück. Bei acht der elf Stücke des neuen Repertoires handelt es sich um Traditionals oder um Songs von Oldtime-Musikern wie dem Afroamerikaner Blind Willie Johnson oder dem weissen Folksänger Blind Alfred Reed. Cooder hat sie neu arrangiert und intoniert sie nun begleitet von einer kleinen Combo und einem Gospel-Trio.

«Everybody Ought to Treat a Stranger Right» gibt die inhaltliche Richtung vor: Jeder sollte fremde Menschen gut behandeln. Das Stück von Blind Willie Johnson von 1930 mit seiner ebenso religiösen wie weltlichen Dimension klingt auch in den heutigen, zerrissenen Zeiten wie ein aktueller Appell. Dank dem Arrangement wird daraus ein wunderbar groovendes, ekstatisches Stück – in einer Art, mit der sich Cooder vor dreissig Jahren schon profilierte.

Noch aufsehenerregender, atmosphärisch dichter wirkt ein weiteres Lied des gleichen Songwriters: «Nobody’s Fault But Mine» baut auf einer bedrohlichen Soundkulisse aus Samples auf, über der sich Cooders starker Leadgesang, ein akustisches Gitarrenriff und der Begleitgesang des Gospel-Trios legen. Auch «Straight Street» von den Pilgrim Travellers aus den 1950er Jahren oder «Harbor of Love» vom religiös motivierten Country-Duo Stanley Brothers bestechen. Wer diese Stücke nur von alten, rauschenden Aufnahmen her kennt, wird hier überrascht.

Jesus Christus trifft Woody Guthrie

Die drei eigenen fügen sich nahtlos in das Gesamtbild ein. Eines davon wird gar zum Höhepunkt des Albums: «Jesus And Woody», eine sechsminütige Unterhaltung zwischen Jesus Christus und Woody Guthrie, dem Pionier des engagierten Folk. Hier wird gewissermassen das gesamte Album programmatisch zusammengefasst. «Man muss zusammenspannen gegen die Maschine des Hasses», sagt Jesus und fügt an: «Natürlich war ich ein Träumer, aber Sie, Herr Guthrie, ebenfalls.» Ry Cooder, der in der Vergangenheit verbissen wirken konnte, singt bei diesen Zeilen wie auf dem ganzen Album wie befreit. Man kann sich auch als Träumer wehren, dank der Kraft dieser Musik.

Ry Cooder: The Prodigal Son (Caroline / Universal).

Musik auf den Spuren des Lebens Schon lange bevor er mit seinem Ausflug in den Buena Vista Social Club eine vergessene Musik zu neuem Leben erweckte, betrieb Ry Cooder eine Art musikalische Geschichtsschreibung. Das neue Album, «Chavez Ravine», nun ist seine kühnste Expedition in die Vergangenheit - und vielleicht auch sein aufregendstes Album.

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